Viktorianisches England


- Die Namensgeberin -

Queen Victoria, Gemälde von George Housman Thomas (1824-1868) / Quelle: Wikimedia Commons
Queen Victoria, Gemälde von George Housman Thomas (1824-1868) / Quelle: Wikimedia Commons

Mit dem viktorianischen Zeitalter bezeichnet man jene Epoche, in der in England Queen Victoria (1819 -1901) geherrscht hat. Da sie bereits mit 18 Jahren, im Jahre 1837, den Thron bestieg, waren es immerhin stolze 64 Jahre!

 

Unter ihrer Regentschaft erlebt England durch immer neue technische Entwicklungen, fortschreitende Industrialisierung und Kolonialisierung eine wirtschaftliche Blütezeit und steigt zur führenden Weltmacht auf. Das Empire erlangt zu jener Zeit seine größte Ausdehnung. Im Jahre 1876 wird Queen Victoria zur Kaiserin von Indien ernannt.

 

Victoria, die ihrem Prinzgemahl Albert in 20 Ehejahren 9 Kinder gebiert, gilt als erste „Medienmonarchin“. Ebenso wie ihr Gatte von der neuen Technik der Photographie begeistert, verbreiten beide mithilfe der Medien ein bestimmtes Bild von sich in der Öffentlichkeit. Dies ist von hoher Respektabilität und Religiosität geprägt. Es suggeriert ein glückliches und skandalfreies Familienleben am königlichen Hof, das dem Volk als Vorbild dienen soll.

 

Nach dem frühen Tode Alberts 1861, beginnt für Victoria eine lange Trauerzeit. Sie zieht sich  aus der Öffentlichkeit zurück und legt bis zu ihrem Tode ihre Witwentracht nicht mehr ab.

 

Mit viktorianisch assoziieren wir heutzutage vornehmlich die damals strengen und - aus heutiger Sicht - prüden Moralvorstellungen. Es galt bereits als unschicklich, wenn eine Dame ihren Fußknöchel unter dem Saum ihres Kleides sehen ließ.

Der hohen Sittenstrenge stand jedoch eine ausufernde Prostitution entgegen. Das London des 19. Jahrhunderts galt als Hochburg der Freudenhäuser und Opiumhöhlen.

 

- Die anglikanische Kirche -

Canterbury Cathedral - by J. LeKeux after a picture by G. Cattermole, 1821 /Wikimedia Commons
Canterbury Cathedral - by J. LeKeux after a picture by G. Cattermole, 1821 /Wikimedia Commons

Die Church of England, Mutterkirche der anglikanischen Kommunion, unterlag im Laufe der Jahrhunderte allerlei Wandlungen. Seit der Herrschaft Heinrich VIII. im 16. Jh. von Rom gespalten, unter Cromwell im 17. Jh. säkularisiert, blieb sie zwar weithin reformiert, umfasste aber ein weites Spektrum zwischen Protestantismus und Katholizismus.

 

Der Einfluss der Puritaner und ihrer Nachfolger, der Nonkonformisten, blieb groß. Daher kam es zu diversen Sektenbildungen. Vor allem Methodisten und Quäker stärkten die nonkonformistische Seite.

 

Mitte des 19. Jh. gibt es ebenso viele anglikanische Kirchen wie sogenannte Freikirchen. Die hohe individuelle Religiosität bietet einen guten Nährboden für Ermahnungen an das eigene Seelenheil. Frömmigkeit und Sittsamkeit können so gut gedeihen.

 

Die allgemeine Fortschritts- und Wissenschaftsgläubigkeit sowie Charles Darwin mit seiner Evolutionstheorie mögen ihren Teil dazu beigetragen haben, dass die Kirche um ihre Macht zu fürchten begann und gewisse Kreise die Ketten fester zu zurren trachteten.

 

In diesem Zusammenhang sei auf die Anmerkung zur Anglikanischen Kirche im Anhang von Band 1 Nicolae-Zwischen den Welten hingewiesen.

 

- Meilensteine -

The Crystal Palace from Dickinson's Comprehensive Pictures of the Great Exhibition 1851 / Wikimedia Commons
The Crystal Palace from Dickinson's Comprehensive Pictures of the Great Exhibition 1851 / Wikimedia Commons

 

1830 wurde zwischen Manchester und Liverpool die erste Eisenbahnstrecke der Welt eröffnet.

 

1840 -1860 wurde der Palace of Westminster (auch Houses of Parliament) im neugotischen Stil erbaut. Er st ein typisches Beispiel für die Architektur der viktorianischen Zeit.

 

1851 fand die erste Weltausstellung statt. Im Londoner Hyde Park präsentierte sich England als „Werkstatt der Welt“ in einem grandiosen Ausstellungsgebäude aus Stahl und Glas (siehe Bild oben), das 1936 bei einem Brand leider völlig zerstört wurde. Joseph Paxton war der Architekt des sogenannten Crystal Palace, Kristallpalastes, dessen Bau von Prinz Albert vorangetrieben wurde.

 

1859 veröffentlichte der Naturforscher Charles Darwin seine Schrift Über die Entstehung der Arten durch natürliche Auslese oder das Erhaltenbleiben der begünstigten Rassen im Ringen um die Existenz, auf Grundlage von Beobachtungen, die er auf seiner Forschungsreise mit der Beagle von 1831-1836 gemacht hatte. Mit diesem Werk begründete er seine Selektions- und Evolutionstheorie. Die erste Ausgabe erschien in einer Auflage von 1250 Exemplaren und war noch am selben Tag ausverkauft!

 

1866 verlegte die Great Eastern - ein 211 Meter langer stählerner Segeldampfer mit 6 Masten, der bis 1888 das größte Schiff der Welt war - ein Seekabel quer durch den Atlantik und ermöglichte damit den interkontinentalen Telegrammverkehr.

 

to be continued ...

 

- Schattenseiten -

Gustave Dore (1832-1883): Houndsditch/Wikimedia Commons
Gustave Dore (1832-1883): Houndsditch/Wikimedia Commons

Bei allen großartigen Errungenschaften gibt es eine Kehrseite der Medaille: die Verelendung der unteren Klassen. Armenhäuser, Obdachlosenasyle und Schuldengefängnisse sind überfüllt. Sogenannte Schlafleute, die über keine eigene Wohnung verfügen, erhalten gegen geringes Entgelt in winzigen Wohnungen einen Schlafplatz für die Nacht.

 

Die Stiche und Zeichnungen von Gustave Doré - franz. Maler u. Grafiker - legen hierüber anschaulich Zeugnis ab. In den Arbeitervierteln Londons herrschen Hunger und Krankheiten. (Vgl. auch Judiths Bericht über die Cholera-Epidemie in Band 1: Nicolae - Zwischen den Welten.)

 

Kinderarbeit und Kinderkriminalität sind an der Tagesordnung. Ebenso die Verurteilung von Kindern zu Prügel-, Gefängnis- oder auch Todesstrafen. Öffentliche Hinrichtungen werden erst 1868 abgeschafft.

 

1876 wird mit dem Education Act erstmalig die Schulpflicht in England eingeführt. Dennoch sind Ende des 19. Jhs. nur 66% der Kinder an Schulen angemeldet. Was Kindheit in England jener Zeit bedeutet, hat uns Charles Dickens realistisch in diversen Romanen beschrieben. 

Der Fotograf John Thomson (1837-1921) hat das Londoner Straßenleben für uns festgehalten.